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Rewriting Memories

Literatur als Beweis und die Achtsamkeit und Widerständigkeit des literarischen Gedächtnisses: Die Schriftsteller*innen Ulrike Draesner und Ingo Schulze, Mitglieder der Akademie der Künste, Berlin, sowie Meena Kandasamy und Mohamed Mbougar Sarr, Stipendiat*innen der JUNGEN AKADEMIE, lesen und sprechen in einer literarisch-biografischen Diskussion über persönliche und kollektive Erinnerung im Zusammenhang mit kolonialer Vergangenheit, autoritären Erinnerungskulturen der Gegenwart, Lücken im Archiv und das Schreiben von Gegennarrativen.

Ñaangooj: Sprechende Erinnerung

Mohamed Mbougar Sarr

Im Senegal gibt es bei den Serer, der Ethnie von der ich abstamme, ein einfaches und zugleich sonderbares Spiel namens Ñaangooj. Ich bin mir nicht sicher, ob im Französischen, Englischen oder Deutschen eine adäquate Übersetzung dafür existiert; aber wenn ich den Begriff erklären müsste, würde ich sagen, Ñaangooj bedeutet zwei Dinge, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Zum einen steht das Wort für die Spuren von Strandkrabben im Sand; zum anderen bezeichnet es ein Stückchen Seil, das man jemandem schenkt.

Das Spiel (das natürlich, wie Sie bereits ahnen, viel mehr ist als ein Spiel) wurde mir wie vielen anderen Kindern in meinem Dorf von der Großmutter mütterlicherseits beigebracht, in meinem Fall von meiner Oma Mboyil, die heute nicht mehr lebt, doch deren Erbe, genau wie meine Erinnerung an sie, weitgehend mit diesem Spiel verbunden ist. Die Regeln von Ñaangooj sind einfach. Es handelt sich um einen Fragebogen, genauer gesagt ein dialogisches Fragen und Antworten. Oma Mboyil fing immer an.

An tchi ka u Ñaangooj? / Wem gebe ich das Ñaangooj?, fragte sie.

Miii! / Mir!, antwortete ich.

Wo ané? / Welchem mir?

Mi Mbougar. / Mir, Mbougar.

Mbougar ané? / Welchem Mbougar?

Mbougar Sabo? / Mbougar von Sabo.

Sabo ané? / Welcher Sabo?

Sabo Mboyil. / Sabo von Mboyil.

Mboyil ané? / Welcher Mboyil?

Mboyil Ndiass? / Mboyil von Ndiass.

Ndiass ané? / Welcher Ndiass?

Ndiass Tening. / Ndiass von Tening.

Tening ané? / Welcher Tening?

Tening Sabo. / Tening von Sabo.

Sabo ané? / Welcher Sabo?

Sabo Khaan. / Sabo von Khaan.

Khaan ané? / Welcher Khaan?

Khaan Diaté. / Khaan von Diaté.

Usw.

Hier höre ich auf, um Sie nicht zu langweilen. Man muss sich diesen Dialog stark rhythmisiert und leichtgängig vorstellen, sehr ernst und dennoch spielerisch. Oma Mboyil lässt mich die Namen meiner weiblichen Vorfahren mütterlicherseits der Reihe nach aufsagen. Ich bin Mbougar und stamme ab von Sabo, die von Mboyil abstammt, die von Ndiass abstammt, die von Tening abstammt, die von einer weiteren Sabo abstammt, die von Khaan abstammt, die wiederum von Diaté abstammt, und immer so weiter bis zu Ngolo, die im 15. Jahrhundert gelebt hat und die älteste meiner weiblichen Vorfahren ist, zu der die Erinnerung zurückreicht.

Selbstverständlich sorgte meine Großmutter dafür, dass ich nach der mütterlichen Linie, auch die Linie meiner weiblichen Vorfahren väterlicherseits aufsagte, die noch weiter zurückreicht, nämlich bis ins 14. Jahrhundert. Darin bestand ihre Aufgabe: eine zugleich symbolische, philosophische und pädagogische Aufgabe. Auf diese Weise verbrachte ich, Woche für Woche, mehrere Stunden meiner Kindheit mit diesem Spiel, das, wie Sie jetzt wissen, alles andere als ein Spiel ist, oder wenn man so will, das grundlegendste: Ein Spiel rund um die existenziellsten Fragen. Ab und zu langweilte es mich und ich weigerte mich zu antworten oder verwechselte aus Zerstreutheit Khaan und Tening. Meine Großmutter regte sich dann manchmal auf und sagte, ich würde es später noch bereuen, dass ich mir nicht mehr Mühe gegeben hatte. Heute weiß ich, dass die Stunden mit meiner Großmutter nicht nur zu den unvergänglichsten Momenten meines bescheidenen Lebens zählen, sondern auch mein größter Stolz sind. Ich kenne die Namen der Frauen, von denen ich abstamme, auf der mütterlichen Seite bis ins 15. und auf der väterlichen bis ins 14. Jahrhundert.

Und dennoch bin ich von meiner Herkunft nicht besessen. Mein Stolz besteht nicht allein darin, dass die matriarchalische Ahnenfolge meiner Familie in mir weiterlebt. Mein Stolz rührt vielmehr daher, dass die Zeit diese Erinnerungen nicht auslöschen konnte und sie einem Vorgang widerstanden, der auf meinem Kontinent und an vielen anderen Orten der Welt große Bereiche von Erinnerung und Geschichte auf brutalste Weise zerstört hat.

Wenn Oma Mboyil mit mir Ñaangooj spielte, brachte sie mir nicht nur bei, dass meine Urgroßmutter Ndiass hieß oder dass die gute Ngolo Mitte des 15. Jahrhunderts bereits einen Teil meines Blutes in sich trug. Nein, wenn sie mit mir spielte und mich in mündlicher Form meinen Stammbaum nachzeichnen ließ, sagte mir meine Großmutter: ‚Ein Teil des Gedächtnisses steckt in der Sprache und dieser Teil wurde zwar verletzt, aber nicht vernichtet.‘

Bevor ich die Erinnerung oder die Geschichte neu schreibe, ist für mich entscheidend, dass ich sie neu erzähle. Ich weiß, dass ein altes lateinisches Sprichwort besagt: ‚Gesprochenes verfliegt, Geschriebenes bleibt‘. Ich hingegen entstamme einer Historie, die allein auf  gesprochener Sprache basiert, einer unbeugsamen aber vergnügten Sprache, einer Liste aus Namen von Frauen, die so brutale Dinge erlebt haben, dass ich sie mir nicht ausmale, die aber trotz der Brutalität und inmitten der Brutalität das Ñaangooj erfanden und am Leben hielten. Daraus ziehe ich folgende Lehre: Wird die Geschichte angefochten, ist wohl die beste Reaktion darauf das Erfinden; das Erfinden von Formen, die sie am Leben halten oder wieder zum Leben erwecken. Der Akt des Erfindens ist auch immer ein Akt von Courage und rührt mich an. Das Ñaangooj ist der Beweis, dass etwas überdauert oder überdauert hat. Etwas in der Sprache stützt das verletzte Gedächtnis. Non solum scripta, sed etiam verba manent.

Ich weiß, welche Frage Sie sich alle stellen. Der Bezug zwischen Ñaangooj und dem Bild vom Stückchen Seil, das man sich schenkt, ist offensichtlich. Es steht als Metapher für die Verbindung, für den Staffelstab, den man von Generation zu Generation weitergibt. Oma Mboyil hat ihn mir überreicht und meine Mutter Sabo wird ihn vielleicht, so hoffe ich, an meine Kinder weiterreichen, ihre Enkel. Doch was hat das alles mit den Spuren der Strandkrabben im Sand zu tun? Ich weiß es nicht genau, habe dazu aber eine Hypothese. Oder vielmehr ein Bild vor Augen: das Bild der Strandkrabbe, deren Spuren sichtbar bleiben, auch nachdem eine große Welle sie überdeckt hat.

Doch das ist nur eine Hypothese.

 

Aus dem Französischen von Andreas Jandl.

*1990 in Dakar, lebt in Paris 

Mohamed Mbougar Sarr ist im Senegal geboren und besuchte dort das Collège und Lycée an einem Militärinstitut. Anschließend studierte er Literatur und Philosophie in Paris, wo er sich mit post- und dekoloniale Werken und Ideen auseinandersetze. Mohamed Mbougar Sarr hat bereits drei Romane veröffentlicht, in denen jeweils die Komplexität bestimmter aktueller Umstände an verschiedenen Orten hinterfragt wird (Terrorismus in Westafrika, Gastfreundschaft (oder auch nicht) gegenüber Immigranten in Sizilien, Homosexualität im Senegal) – im MIttelpunkt seiner schriftstellerischen Praxis stehen das politische, gesellschaftliche Zeitgeschehen. Derzeit liegt sein Fokus auf der Literatur selbst: ihrer Macht, ihren Möglichkeiten, ihrem Versagen, ihren Geheimnissen. Welche Erwartungen haben Menschen an eine/n Schriftsteller*in und welche Erwartungen hat der/die Schriftsteller*in an die Literatur?

Berlin-Stipendium

Mehr über Mohamed Mbougar Sarr

Memory Loops

Ulrike Drasener

Mein erstes Buch, ein Gedichtband, trägt den Titel gedächtnisschleifen. Als es 1995 erschien, wunderte sich Mancher, warum es mit Erinnerungen an Situationen einsetzt, die vor meinem Geburtsdatum liegen.

Ich hätte die Frage damals nicht beantworten können. Ich wusste nur, dass es richtig war. Dass ich Erinnerungen hatte, Erinnerungen an Verletzungen, Erinnerungen von Verlusten, die-mir-gehörten-nicht-gehörten.

Heute nenne ich, was zahlreiche meiner Texte durchzieht, Arbeit an der Sprache des Nach-Gedächtnisses. Ich beziehe mich auf den Begriff postmemory, wie Marianne Hirsch ihn Anfang der 90er Jahre in einem Artikel zu Art Spiegelmans Maus entwickelte. Postmemory beschreibt das Verhältnis der Nachfolgegeneration zu den persönlichen, kollektiven und kulturellen Traumata, die die Vorgängergeneration erfuhr. Hirsch entwickelte das Konzept anhand eigener Erfahrungen sowie unter Auswertung literarischer und künstlerischer Darstellungen des Phänomens der „fremden Erinnerung“. Die Erfahrungen der Vorgängergeneration(en) werden, vermittelt durch mehr oder minder anekdotische und rudimentäre Erzählungen, Bilder und Verhaltensweisen „erinnert, inmitten derer die Nachfolgegeneration aufwächst. Es kommt zu derart intensiven Weitergaben halb oder gar nicht ausgesprochener Erlebensinhalte, dass Kinder und Kindeskinder sie als eigene Erinnerungen wahrnehmen. Postmemory bedeutet eine Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit durch Imagination, Projektion und nachempfindende Erfindung.

Wer mit überwältigenden, ererbten Erinnerungen aufwächst, beherrscht von Geschichten, die der Bewusstwerdung vorausgingen, steht in der Gefahr, die eigene Lebensgeschichte zu verlieren.

Sie wird durch traumatische Bruchteile von Ereignissen geformt, die sich, jedes Verstehen übersteigend, der (Be)Sprechbarkeit noch immer entziehen.

Fremdes Gedächtnis. Geteiltes Gedächtnis – fragmented and shared.

Literatur ist Grenzgang. Sie sucht das Entzücken, den Abgrund, Lob, Klage, Liebe, Krieg, eine Welt mit und eine ohne Ich, bezieht sich auf den Redegang als solchen (Sprechen, Verstummen, Schweigen, Stottern), macht Sprechbarkeit zu ihrem eigensten Prozess (was durchlaufen, was in der Form auf-gebracht wird).

 

Literatur hat die Möglichkeit zu übersetzen. Übersetzung aus einem Leben in ein erfundenes/geschriebenes.

Von dort in ein weitererzähltes.

Übersetzung von Nichtsprache in Sprache.

Bearbeitung der Grenze der Sprachlichkeit.

Diese Bearbeitung setzt eine Hinterfragung (bis Auflösung) der eigenen Sprech-„Position“ voraus. Sie wird als Konstrukt erkannt und ihrerseits an die Grenze der Sprechbarkeit getrieben.

Ulrike Draesner, Lyrikerin, Romanautorin, Essayistin, Übersetzerin. Seit 2019 Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Literatur. Studium in München und Oxford, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. 2015 – 2017 lehrte sie an der Uni­versität Oxford, seit 2018 Professorin für deutsche Literatur und literarisches Schreiben an der Universität Leipzig. Auszeichnungen u. a.: Preis der Litera­Tour Nord, Deutscher Preis für Nature Writing, Bayerischer Buchpreis, Preis der GEDOK (alle 2020), Gertrud Kolmar Preis (2019).

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Wir Schreiben - Meistens

Meena Kandasamy

Erinnerung und die Bürde der tamilischen Frau

Als ich gebeten wurde, zu diesem Projekt über die Neuschreibung von Erinnerungen beizutragen, begann mich die Frage der Erinnerung unter und nach dem Kolonialismus zu beschäftigen. Ich wurde 1984 geboren, 37 Jahre nachdem Indien die Unabhängigkeit erlangt hatte, und bin inzwischen selber fast 37 Jahre alt. Ich möchte ein intimes und politisches Gedicht mit Ihnen teilen, das ich 2002 geschrieben habe:

 

Ihre Töchter

Paracetamol-Legenden, die ich kenne
Senken steigendes Fieber, lindern Schmerzen –

Mein Volk – meines Vaters Vaters Mutters
Mutter, dunkles dichtes Haar, das um ihre Knöchel streift
Manchmal Erde fegend, tief honigfarbene Haut
Bernsteinaugen – nicht Schönheit allein, sagen sie – sie
Heiratete einen Mann, der dreizehn Männer ermordete und eines
Einsamen Sommernachmittags rissen ihre reisweißen Zähne
Durch Lagen von Khaki, und goldweiße Haut, um die
Blutigen Eingeweide eines britischen Soldaten zu vergießen, der sie zu kolonisieren suchte…

Mein Land – gleichmäßig blauer, weiter Himmel
Wild-künstlerische Paletten grünen Landes und lilienvolle Seen, die
Spiegeln alles – nicht Frieden und Ruhe allein, er schaudert – eine
Junge Frau nah beim Haus meines Vaters, mit einem betrunkenen Ehemann
Der sich nie änderte; sie ertrug seine täglichen Schläge, bis sie ihn in
Stürmischer Nacht, in ihrer Wut, tötete, indem sie seine Futtersäcke zerstampfte…

Wir: ihre Töchter.
Wir: die Töchter ihres Bodens.

Wir schreiben – meistens.

 

Die Politik des Schreibens von Erinnerung im Schatten der Kolonialgeschichte ist keine Kleinigkeit. Für eine Frau mit Eltern aus verschiedenen Kasten – mein Vater stammt aus einem Nomadenstamm, meine Mutter aus der niedrigen Shudra-Kaste – ist das Aufschreiben von Erinnerungen keine kreative Tätigkeit, sondern kämpferischer Aktivismus.

In einer zusammengesetzten und hierarchischen Gesellschaft wie Indien ist das Aufschreiben der Erinnerung noch leidiger, weil wir nicht nur als postkoloniale Untertanen/Bürger eines neuen Nationalstaates existieren, sondern weil unsere Unabhängigkeit selbst nur ein Scheinprojekt war – eines, das die vorübergehende Herrschaft und Unterdrückung der Briten beseitigte und uns unseren alten Herren zurückgab: das brahmanische Kasten-patriarchale System. Obwohl es heißt, dass die Kolonialgeschichte dazu diente, „kollektive und individuelle Erinnerungen zu zerquetschen, auszulöschen und zu manipulieren“ (Johnson und Brezault), möchte ich aufstehen und sagen, dass unsere Erinnerungen kollektiv und individuell zerquetscht, ausgelöscht und manipuliert wurden, noch bevor die Kolonialmächte einen Fuß auf unser Land setzten. Und dies geschah, weil wir die unterdrückten Kasten unter dem Sanatana-Dharma-Brahmanismus waren, weil wir Frauen unter diesem patriarchalischen System der Kasten waren, das uns jegliche Bildung, jegliches Lernen, jegliche Unabhängigkeit verbot.  Und das ist der Elefant im Zimmer, den viele Kolonialismus-/Postkolonialismusforscher versäumen anzusprechen – dass es bereits vor dem Ansturm des Kolonialismus Systeme der Unterdrückung gab, die während ihrer Herrschaft mit den Kolonialmächten kollaborierten, und dass der Sturz des Kolonialismus nicht immer die Geburt radikaler Gleichheit bedeutete. Mein Vorwurf des „Versäumnisses der Wissenschaftler“ im vorigen Satz ist eine milde Untertreibung. Was wir über die Jahre ebenfalls beobachten konnten, ist die akademische Tendenz, die Manifestierung von Kasten in der Gegenwart als Artefakt des britischen Kolonialismus darzustellen. Es gibt dieses zu-Tode-gerittene Kundera-Zitat: Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf der Erinnerung gegen das Vergessen. Im spezifischen Kontext Indiens wirkt diese Macht, die auslöscht, vernichtet, spurlos ausradiert, auf mehreren Ebenen: Kaste, Geschlecht, Klasse, Ethnie, Geografie. Brahmanismus, Sanatana, oder diese Macht der Kaste ist anders als jede andere Diskriminierung in der Welt, sie ist religiös verordnet als etwas Naturgegebenes. Das Auslöschen der Erinnerung der Unterdrückten, das Auslöschen der Geschichte des kämpferischen Widerstands der Unterdrückten wohnte dem Kastensystem inne.

Ich mache dies absichtlich verworrener, in der Hoffnung, dass ein solches Aufwühlen zu Klarheit führt. Dies sind nur einige meiner einleitenden Bemerkungen über den Prozess des Schreibens von Literatur und darüber, wie ich Literatur als bewusstes Bemühen sehe, das öffentliche und soziale Gedächtnis sowie Geschichte zu schaffen und zu gestalten.

Schreiben kann nicht aus dem sozialen Kontext gelöst werden. Von der Pandemie des Coronavirus verwüstet, ist mein Land zu einem Freiluftkrematorium, sind die Ufer seiner Flüsse zu flachen Massengräbern geworden. Vor diesem Hintergrund habe ich mir Archivmaterial angesehen. Die indische Volkszählung während der Präsidentschaft Madras vor einem Jahrhundert erzählt eine Geschichte, die sich gespenstisch mit der heutigen Zeit deckt:

„Es wird sich zeigen, dass sieben der Städte 1921 eine geringere Einwohnerzahl aufweisen als 1911. Der Rückgang in Salem ist auf eine Seuche zurückzuführen, die mit der Volkszählung zusammenfiel. Im Fall von Negapatam und Cuddalore, die beide um 10 Prozent gesunken sind, wird der Rückgang auf die Flaute im Handel zurückgeführt. Im Fall von Trichinopoly wird der Rückgang der Bevölkerung auf die hohe Sterblichkeit zurückgeführt, die wiederum zum Teil auf die Notlage infolge der hohen Lebensmittelpreise und zum Teil auf die Grippeepidemie zurückzuführen ist. Auf die gleichen Ursachen kann der Rückgang der Bevölkerung in Kumbakonam und Tanjore zurückgeführt werden.“

Bei der Volkszählung ging es um die Zählung durch eine Kolonialbehörde: eine Behörde, die zwar Zahlen nennt, sich aber nicht zu ihrer eigenen Schuld und ihrer grausamen Rolle beim Verursachen von Hungersnöten bekennt, zu ihrem mangelnden Eingreifen bei der Krankheitsvorsorge, zu ihrem Versagen, Untertanen wie menschliche Wesen auf Augenhöhe zu behandeln. Heute, als unabhängige Nation, kämpfen wir gegen die Unterberechnung durch unsere Staatsgewalt – eine Behörde, die sich ihre eigene Rolle bei dem exponentiellen Anstieg der Todesfälle nicht eingesteht, die nichts getan hat, um Leben und Lebensgrundlagen zu sichern, und die alle sterben ließ. Unsere Herren sind jetzt andere, unsere Erinnerungen folgen dem gleichen Schema.

Die einzige Veränderung ist eine Änderung der Zahlen – dialektisch gesehen, eine quantitative Veränderung, die eine qualitative Veränderung in Gang gesetzt hat. Im Jahr 1921 wird in derselben Volkszählung erwähnt, dass nur 21 von 1.000 Frauen während der Präsidentschaft Madras lesen und schreiben konnten. Heute fallen die Zahlen zu unseren Gunsten aus: Unsere Alphabetisierungsrate liegt bei 96,8 %. Heute, als Frauen, schreiben wir, schreiben wir um – und betrachten all das Geschriebene als zutiefst politische und im Wesentlichen subversive Lebensaufgabe.

 

Aus dem Englischen von Sue Maatz.

*1984 in Tamil Nadu, lebt in Tamil Nadu und London

Meena Kandasamy ist Dichterin und Schriftstellerin. Sie wurde in Chennai, Indien, geboren. Erschienen sind von ihr zwei Gedichtbände, Touch (2006) und Ms Militancy (2010). In ihrem Debütroman The Gypsy Goddess (2014) erzählt Meena Kandasamy die Geschichte des Kilvenmani-Massakers von 1968. Ihr zweiter Roman, ein autofiktionales Werk, das 2017 unter dem Titel When I Hit You: Or, The Portrait of the Writer As A Young Wife erschien, stand auf der Shortlist für den Women’s Prize for Fiction 2018. Ihr jüngster Roman, Exquisite Cadavers (2019), ist eine experimentelle Fiktion, in der es um das Erzählen von Geschichten geht.

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Ingo Schulze

Mit jeder neuen Erfahrung ändert sich mein Verhältnis zur Vergangenheit. Wie wir die Vergangenheit sehen, bestimmt unsere Gegenwart. Wer die Deutungshoheit hat über die Vergangenheit, regiert auch die Gegenwart.

 

Für meine Erinnerung ist der Umbruch von 1989/1990 entscheidend, weil sich in diesem Moment alles geändert hat, nichts ist davon unberührt geblieben. Es hat sich nicht nur das Geld geändert oder das Essen oder die Kleidung oder die Straßennamen oder die Luft oder der Beruf, sondern auch die Liebe, die Freundschaft. Keine Beziehung ist über kurz oder lang davon unberührt geblieben.

Es wäre zu einfach zu sagen, es wäre ein Wechsel von ideologischen Abhängigkeiten zu ökonomischen gewesen. Aber natürlich war es auch das.

Für mich ist es immer ein Problem, über die Zeit vor 1989 zu schreiben, weil ich dann in Gefahr gerate, durch meine Kritik an dem Damals, das Heute ungewollt zu rechtfertigen.

Für mich lässt es sich nur als ein Wechsel von Abhängigkeiten und von Freiheiten beschreiben.

 

Eine in Deutschland geborene und aufgewachsene Autorin aus einer türkischen Familie sagte mir vor einiger Zeit: Du weißt, dass Du einen ostdeutschen Hintergrund hast, ich weiß, dass ich aus einer Migrantenfamilie komme, nur die Westler wissen nicht, dass sie Westler sind.

Das ist sehr vereinfacht gesagt, trifft aber im deutsch-deutschen Gespräch doch einen wichtigen Aspekt. Während die eine Seite als „normal“ oder als Maßstab gilt, wird die andere durch den Grad an Abweichung bestimmt. Besonders gut sind diejenigen aus dem Osten, die „angekommen“ sind, also bei denen der Abstand nicht mehr existiert. Interessant ist die Analogie zwischen der Herkunft aus dem Osten und der aus Migrantenfamilien. Denn für sie ist vieles nicht selbstverständlich, was für jemanden, der im Westen geboren worden ist, nicht in Frage steht. Natürlich muss da sehr differenziert werden (das Alter spielt schon eine Rolle!) und vor allem: Im Einzelfall besagt das nichts.

 

Es wäre interessant, die Vergangenheit der beiden deutschen Staaten im Vergleich zum globalen Süden zu untersuchen. Dieses Kriterium fehlt meines Wissens bisher in der Analyse. Auch wäre es interessant, Ostdeutschland mit dem Instrumentarium der Postcolonial-Studies zu untersuchen (Anteil an Besitz von Grund und Boden, Immobilien, Betrieben; Anteil an Führungspositionen).

Als Reaktion auf die ersten freien Wahlen hielt ein damaliger Grünen-Politiker (Otto Schily) eine Banane in die Kamera. Das sollte heißen: Die Ostdeutschen haben den Wohlstand gewählt, die Banane. Darauf gab es sehr unterschiedliche Reaktionen, zumeist kritische. Aber in keiner Reaktion wurde der selbstverständliche Anspruch auf die Banane, auf deren Verfügbarkeit in Frage gestellt, als würden diese an Rhein und Mosel wachsen.

Ingo Schulze, Schriftsteller, lebt in Berlin. 1995 erschien sein Debüt 33 Augenblicke des Glücks, es folgten mehrere Romane und Erzählbände, Simple Storys, 1998, Neue Leben,  2005, Adam und Evelyn, 2008, Orangen und Engel, 2010, Peter Holtz, 2017 und zuletzt Die rechtschaffenen Mörder, 2020 und Tasso im Irrenhaus 2021. Seine Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt, vielfach ausgezeichnet und verfilmt. Mitglied der Akademie der Künste, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Sächsischen Akademie der Künste.

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