Eine Betrachtung

Sieben Tage im April

Anna Weidenholzer

Im April wäre ich erneut für eine Woche nach Berlin aufgebrochen, wo ich bereits den Dezember und Jänner mit einem Stipendium an der Akademie der Künste verbringen durfte. Wäre, denn das Jahr 2020 wurde zum Jahr des Konjunktivs.

Die Corona-Krise erreichte mich zum ersten Mal, als ich Ende Jänner in Berlin in der S-Bahn saß und erfuhr, dass mein für März geplanter Aufenthalt in Hong Kong abgesagt wurde. Corona schien damals weit entfernt. Eineinhalb Monate später fand ich mich in einem Europa mit gesperrten Grenzen wieder.

Die folgenden Notizen sind Möglichkeitsraum und Erfahrungsinsel. Sie spielen zwischen den Orten, handeln davon, was vielleicht in Berlin passiert wäre, während ich in Wien die Ausgangsbeschränkungen erlebte.

4. April 2020, 16:27 Uhr: ICE, zwischen Wien und Berlin Untere Weißgerberstraße, Wien

Langsam fährt der Zug an sechs Männern vorbei, die in orangen Warnwesten an einem Nebengleis arbeiten. Einer hält einen weißen Spitz an der Leine. Der Hund schaut drein, als wüsste er nicht recht, wie er in diese Umgebung gekommen ist.

In diesen Tagen lege ich meine Wege öfters so, dass ich an einem Globus vorbeikomme, der im Schaufenster einer Altwarenhandlung steht. Er ist kleiner als ein Kopf, ich könnte mühelos die Welt in Händen halten, wäre nicht das Glas zwischen uns, das uns trennt.

5. April 2020, 14:22 Uhr: Skalitzer Straße, Berlin Marxergase, Wien

Ein Panda auf der Verpackung des Toilettenpapiers, ein Braunbär auf der Milch, die Kundin vor mir kauft tierorientiert. Sie drückt der Kassiererin einen Geldschein in die Hand und lobt deren Ring: Ein Rot wie ein Marienkäfer, das bringt Glück.

Eine Kundin schreit den Kassier an, der hinter einer Plexiglasscheibe sitzt. Mit einer Zange streckt ihr der Mann zwei Masken entgegen. Ab morgen müssen wir beim Einkaufen unsere Münder und Nasen verdecken.

6. April 2020, 19:21 Uhr: Kohlfurter Straße, Berlin Stubenbrücke, Wien

Der Himmel trägt heute Abend bunt.

Schaue ich auf den Stadtpark und das InterContinental Hotel, fühlt es sich an, als wäre ich in Warschau und Paris zugleich. Die Fenster des Hotels sind in Herzform beleuchtet. Jemand muss von Zimmer zu Zimmer gegangen sein, Stock für Stock das Herz zum Leuchten gebracht haben. Ich möchte nicht an eine automatische Steuerung glauben, die so etwas könnte. Es muss ein Mensch gewesen sein.

7. April 2020, 10:30 Uhr: Spreeweg, Berlin Hetzgasse, Wien

Vor Schloss Bellevue parkt ein Kind. Mit skeptischem Blick sitzt es in seinem Kinderwagen, die Eltern lachen, während sie es fotografieren.

Donald Trump möchte keine Maske tragen: “I just don’t want to be doing – somehow sitting in the Oval Office behind that beautiful Resolute Desk, the great Resolute Desk, I think wearing a face mask as I greet presidents, prime ministers, dictators, kings, queens, I don’t know, somehow I don’t see it for myself.”

8. April 2020, 21:03 Uhr: Tiergarten, Berlin Grailichgasse, Wien

Im Tiergarten legt ein Mann rote Nelken für Karl Liebknecht nieder. Zwei Krähen fliegen einer Fahrradfahrerin nach. Sie füttert die Vögel aus ihrem Korb.

Hinter dem Bahnhof begutachtet eine Entendame einen Hauseingang. So weit ist noch nie eine gekommen. 300 Kilometer die Donau hinab hat Viktor Orbán das Parlament ausgeschaltet. Der österreichische Bundeskanzler sagt, er habe keine Zeit, sich damit auseinanderzusetzen.

9. April 2020, 12:40 Uhr: M10, Berlin Hetzgasse, Wien

Bemerkenswerte Anordnung von Geschäftslokalen: Eine Agentur für Pflegekräfte, daneben ein Bestattungsinstitut, daneben ein Ballongeschäft.

Aus dem Radio die Nachrichten, Saudi-Arabien verkündet einen Waffenstillstand im Jemen. Erstmals verstehe ich ein Wort auf Arabisch: Corona.

10. April 2020, 13:09 Uhr: ICE Berlin-Wien Löwengasse, Wien

In Linz sitzt ein alter Mann am Bahnsteig. Er trägt eine Kappe mit der Aufschrift Ohhhh Nooo.

Die Schneiderin neben dem Supermarkt ist auf die Maskenproduktion umgestiegen. Am besten gehen Bananen und Totenköpfe, sagt sie.

*1984 in Linz, lebt in Wien

Anna Weidenholzer ist Schriftstellerin und studierte Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität in Wien und der Uniwersytet Wrocławski, Polen. 2010 erschien der Erzählband Der Platz des Hundes. Die Autorin wurde vielfach ausgezeichnet, etwa mit dem Alfred-Gesswein-Literaturpreis 2009, dem Outstanding Artist Award 2017 der Republik Österreich und mit zahlreichen Stipendien und geförderten Auslandsaufenthalten. 2013 stand sie mit ihrem ersten Roman Der Winter tut den Fischen gut auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse, 2016 mit dem Roman Weshalb die Herren Seesterne tragen auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Ihr dritter Roman Finde einem Schwan ein Boot erschien im Herbst 2019.

Berlin-Stipendium

Mehr über Anna Weidenholzer