Space

Archiving Care

Historische Aufzeichnungen infrage zu stellen, Erzählungen zurückzufordern oder Differenzen in öffentliche Darstellungen einzuschreiben, erfordert Eigensinn, Vorstellungskraft sowie das Zusammenwirken von gegenläufiger Erfahrung und Wissen. Seinem Wesen nach ist das Archiv meist unvollständig und fragil. Es ist zu einem Raum geworden, in dem Darstellungen von Geschichte(n) angefochten und durch Akte des Widerstands und der Verweigerung neu gedacht werden. Im offensiven Umgang mit Leerstellen, Auslassungen und der Wirkmacht von Metadaten, untersucht „What Stays – Archiving Care“, wie Gegenarchive durch Gesten der Fürsorge geschaffen werden und dabei alternative Geschichtsnarrative hervorbringen.

„What Stays – Archiving Care” ist ein Projekt der JUNGEN AKADEMIE der Akademie der Künste, des transmediale festival for arts and digital culture und des Goethe-Instituts Slowakei. Mit einem Open Call für digitale Residencies für internationale Künstler*innen und verschiedenen Präsentationsformaten online und offline werden ein Jahr lang künstlerische Strategien an der Schnittstelle von Gegenarchiven und Technologie diskutiert.

Die ausgewählten Künstler*innen sind:

Aditya Surya Taruna aka Kasimyn

Digital Resident

Gamelan ist die traditionelle Ensemblemusik der javanischen, sundanesischen und balinesischen Völker Indonesiens; die Orchester bestehen im Wesentlichen aus perkussiven Instrumenten. In JOGET-X erforscht Aditya Surya Taruna die Vielfalt der Gamelan-Musik, um ein spekulatives Archiv der indonesischen Tanzmusik aufzubauen. Zentrale Frage des Projektes ist: Was wäre, wenn Kolonialismus keinen Einfluss auf die Entwicklung von Musik, Technologie und Tanz gehabt hätte? Untersucht wird, inwieweit mündliche Traditionen und Wissenssysteme der indigenen Kultur mit dem globalen Verständnis von Technologie und Musik koexistieren und kontextualisiert werden können. Das Archiv wird historische Daten aus den Jahren 1980 bis 2020 enthalten. In Zusammenarbeit mit sechs Musiker*innen und Tänzer*innen aus Jakarta bis Wamena (West-Papua) werden bestehende Geschichten mithilfe von Laras, einer indonesischen Stimmmethode, aufgebrochen und dekonstruiert. Aktuell entwickelt der Künstler außerdem eine Reihe von digitalen Open-Source-Instrumenten, die auf den Methoden und Merkmalen der Gamelan-Musik basieren.

Aditya Surya Taruna aka Kasimyn ist Produzent elektronischer Musik, Soundartist, DJ, Amateurforscher und Motion Designer; er lebt auf Bali. Seine Arbeiten bewegen sich an der Schnittstelle von Tradition, Technologie sowie Tanzmusik, und verbinden auf faszinierende Weise die Vergangenheit und Zukunft der indonesischen Kultur. In dem experimentellen Kollaborationsprojekt Gabber Modus Operandi entwickelt Aditya Surya Taruna mit einem Künstler/MC-Kollegen eine fiktive Version indonesischer Clubmusik, die traditionelle Tonleitern mit Hardcore Techno verbindet. Er arbeitete außerdem als Solokünstler unter dem Namen Hulubalang.

Aditya Surya Taruna trat auf mehreren Festivals auf, darunter Dark Mof, CTM Festival, Unsound sowie NYEGE-NYEGE Festival Uganda, und veröffentlichte bei Labels wie YESNOWAVE Indonesia, Shanghais SVBKVLT, Irlands CANVAS INDEX, SFX Berlin und dem Schweizer Label DANSE NOIRE.

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Romi Ron Morrison

Digital Resident

Noticing The Preconditions For ___________. ist ein Experiment im dauerhaften Austausch zwischen Romi Ron Morrison und der nigerianisch-amerikanischen Künstlerin Mimi Onuoha. In diesem Projekt nimmt das Wahrnehmen eine archivische Form an, indem Momente der Fürsorge aus dem alltäglichen Leben der beiden Künstler*innen katalogisiert werden. Ausgehend von der Spannung zwischen zwei Welten – eine, die verzweifelt versucht, ihre Macht auszubauen, und eine neue Welt, die noch nicht geboren werden durfte – zielt das Projekt darauf ab, Spuren dieser neuen Welt in der Gegenwart zu finden und zu sammeln. Diese Momente werden archiviert und sollen als Leitfaden für Schwarze Zukünfte und ihre alltäglichen Praktiken der Fürsorge und Verwandtschaftsbeziehungen dienen. Die Datenbank skizziert verschiedene Wege, wie sich das Künstler*innen-Duo ein ideales Zusammenleben in der Zukunft vorstellt.

Romi Ron Morrison ist Schwarze*r queere*r nicht-binäre Künstler*in und Forscher*in. Morrison untersucht mithilfe digitaler Technologien persönliche, politische, ideologische und räumliche Grenzen von race, Ethik und sozialer Infrastruktur. Dabei verbindet die Künstler*in Archivrecherche, Dramaturgie und visuelle Strategien mit Videokunst, Collage, skulpturaler Installation und Virtual Reality. Zentrales Thema sind neue Technologien für Schwarzes Leben, die eine zunehmend quantifizierte Welt hinterfragen, in der Land auf Eigentum, Menschen auf Zahlen und Wissen auf Daten reduziert werden.

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Lo-Def Film Factory in Kollaboration mit Joe-Yves Salankang Sa-Ngol

Digital Resident

Ausgehend von der Geschichte der Shinkolobwe Mine in der demokratischen Republik Kongo untersucht das fortlaufende Forschungsprojekt The Subterranean Imprint Archive das Vermächtnis von Technologien, die zum Abbau von Bodenschätzen in Zentral- und Südafrika eingesetzt wurden. Die digitale Residency eröffnet ein neues Kapitel, in dem die Künstler*innen nach weiteren Schlüsselmomenten zur Geschichte afrikanischer Atomkraft suchen. Mithilfe von visuellen Strategien manipulieren sie globale Mapping-Technologien und fragen, inwieweit bestehende Modelle verschoben, neu geordnet, miteinander verknüpft und aufgebrochen werden können, um so den Diskurs über Technopolitik in Afrika und auf der Welt zu vertiefen und neu zu definieren. Das Projekt versucht, bisher getrennte Narrative miteinander zu verbinden und diese historischen und technologischen Verflechtungen zu visualisieren.

Das südafrikanische Künstler*innen-Duo Lo-Def Film Factory verbindet Archivrecherche, Dramaturgie und visuelle Strategien mit Videokunst, Collage, skulpturaler Installation und Virtual Reality. In ihren Arbeiten schaffen Francois Knoetze und Amy Louise Wilson Raum für kollaboratives und experimentelles Community Storytelling. Francois Knoetze ist Bildhauer, Performance- und Videokünstler und schafft erzählerische Porträts über die Unsicherheit einer global-digitalen Maschine am Rande des Kollapses. Amy Louise Wilson ist Schriftstellerin und Performerin und interessiert sich für südafrikanische Theaterpraktiken als Raum für Forschung und Experiment. Das Duo arbeitet mit digitalen, selbsterfundenen Technologien, wodurch bewusst Fehler zugelassen werden.

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Talk

Die Auftaktveranstaltung von „What Stays – Archiving Care“ war eine Podiumsdiskussion über gegensätzliche archivarische Praktiken, ihre Werte und Bedeutung für verschiedene Gemeinschaften und wie sie das Wesen der Erinnerung verändern. Wie und woran sich eine Gesellschaft erinnert, wird zu einer Schlüsselfrage in einer Zeit, in der Selbstbilder neu verhandelt und Mechanismen der Ein- und Ausgrenzung in Frage gestellt werden. Was ist uns wichtig und was wollen wir bewahren? Welche Geschichten wollen in den Vordergrund gerückt werden und welche sollten zurückgelassen werden? Diese Fragen stehen in direktem Zusammenhang mit der Zukunft der Kulturarchive, die zu Räumen geworden sind, in denen die Darstellung von Geschichte durch Akte des Widerstands und der Verweigerung angefochten und erweitert wird. Zu Gast auf dem Panel war Maya Indira Ganesh, sie arbeitet als Forscherin, Autorin und Informationsaktivistin an der Schnittstelle von neuen Medien, digitalen Technologien, Gender, visuellem Aktivismus und Menschenrechten. Die letzten acht Jahre verbrachte sie bei Tactical Technology Collective in Bangalore und Berlin, wo sie als Direktorin für angewandte Forschung tätig war. Die Ausstellung „how to move an arch“ von Sinthujan Varatharajah war Teil der 11. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst. In dieser Arbeit liest Varatharajah Berlin durch die Fluchtbewegungen eines traumatisierten Volkes durch die damals, in den 1980er Jahren, geteilte Stadt. Ihr lebendiges Archiv befragt die vielen Kämpfe eines Volkes ohne Souveränität über Land (und Körper), um Räume über verschiedene politische Regime hinweg zu markieren und stabile Archive aufzubauen und zu erhalten. Das Gespräch wurde von Nora O Murchú moderiert, die seit 2020 die künstlerische Leitung der transmediale innehat. In ihrer Forschung und kuratorischen Praxis untersuchen sie Überschneidungen zwischen den Bereichen Kunst, Design, Software Studies und Politik.

Im Rahmen der Diskussionsveranstaltung werden die Künstler des digitalen Residenzprogramms Aditya Surya Taruna, Romi Ron Morrison, Francois Knoetze und Amy Louise Wilson ihre Arbeiten vorstellen.

Maya Indira Ganesh arbeitet als Forscherin, Autorin und Informationsaktivistin an der Schnittstelle von neuen Medien, digitalen Technologien, Gender, Menschenrechten und Aktivismus und Interessensvertretung mit visuellen Mitteln. Die letzten Jahre verbrachte sie mit dem Tactical Technology Collective in Bangalore und Berlin, wo sie die Leitung für Angewandte Forschung innehatte. Sie hat einen Doktor von der Leuphana Universität Lüneburg, wo sie Machine Learning, Ethik und Verantwortlichkeit erforschte. Ihre Arbeit hat sie auf zahlreichen Technologie-, Aktivismus-, Kunst- und akademischen Konferenzen vorgestellt, darunter Eyeo Festival, re:publica, Transmediale, Chaos Communication Congress,  Theorizing The Web, Netzpolitik, und am Canadian Centre for Architecture.

Sinthujan Varatharajah ist politische*r Geograph*in, Essayist*in sowie Forscher*in und arbeitet zu den Themen Staatenlosigkeit, Mobilität und Machtgeographien. Sie*Er interessiert sich hierbei insbesondere für die Infrastruktur, Logistik und Architektur der (Ohn)Macht. Varatharajahs Ausstellung „wie man* eine arche bewegt“, über die Grenzbewegungen tamilischer Geflüchteter, war 2020 Teil der 11. Berliner Biennale für zeitgenössische Kunst. Ihr*Sein erstes Buch erscheint nächsten Frühjahr im Hanser Verlag.

Nora O Murchú ist künstlerisch*r Leiter*in der Transmediale seit 2020. Murchús Forschung und künstlerische Praxis untersucht die Schnittpunkte zwischen den Feldern der Kunst, des Designs, der Software-Studien und der Politik. Murchús multidisziplinäre Arbeit umspannt Erzählungen und Fiktionen und findet Form in Objekten, Ausstellungen und Interventionen. Murchús Forschung zielt darauf, verständlich zu machen, wie komplexe sozio-technische Systeme vorgestellt, gebaut und verwendet werden.