Im Gespräch
„BODIES AND VALUES“ – eine Begegnung mit Körpern jenseits von Blickregimen und traditionellen Bewegungsmustern
Yvon Chabrowski & Hubertus von Amelunxen
Kunstwissenschaftler und Akademie-Mitglied Hubertus von Amelunxen im Gespräch mit der Künstlerin und Stipendiatin Yvon Chabrowski über ihre Werkreihe BODIES AND VALUES, die den Screen, die Glasoberfläche des Monitors als Bestandteil ihrer Videoskulpturen in den Fokus rückt: In den vier Arbeiten der Reihe – SCREEN, SWAYING, LEVEL und HORIZONTAL (2020) – wird durch die Performance die Bildschirmoberfläche als Komponente des Monitors und des Bildes selbst sichtbar. Die gläserne Membran, die Bildschirmoberfläche, die das Innen und Außen von Medienbildwelten definiert, wird zum Objekt der Performance selbst.
Die Betrachtenden sehen die Performerinnen Runa Hansen, Martina Garbelli, Nasheeka Nedsreal und Maria Wollny lebensgroß in dem Raum, der durch den jeweiligen Monitor definiert wird. Sie schlagen, berühren, fühlen, atmen, stehen, rutschen oder liegen auf der Scheibe, durch die wir täglich schauen. Es entsteht das Gefühl, den Performerinnen zu begegnen, da sie zu den Relationen der Monitore mit ihren realen Körpergrößen ins Verhältnis gesetzt sind – lebensgroß wie die Betrachtenden vor den Monitoren.
Hubertus von Amelunxen: Wem oder was begegnen wir im Bild? Und wie begegnet das Bild uns? Sprechen wir von SWAYING: Du nennst es eine Skulptur. Warum? Weil der Rahmen im Raum hängt und pendelt, er hat gleichwohl keinen Rücken? Weil er sich bewegt, motorisch angetrieben und sein Schaukeln uns Gravität und Gleichgewicht spüren lässt? Als Betrachter bin ich zunächst darüber betroffen, dass das bewegte Objekt des Bildes im Bild gefangen scheint, dass ich Zeuge dieses Verlaufes einer existenziellen Bedrängnis bin – darauf komme ich später nochmals zurück. Aber zunächst: Was ist es nun, ein Video, ein Bild, eine Skulptur, eine Installation? Wenn eine Benennung helfen könnte, hättest Du eine präzise?
Yvon Chabrowski: SWAYING ist eine Videoskulptur. Man kann sich ihr aus verschiedenen Blickwinkeln annähern, da man um sie herum gehen kann. Meine künstlerische Praxis hat sich aus meiner frühen Beziehung zur analogen Fotografie und aus dem Betrachten von Medienbildern entwickelt. Ich frage mich, inwiefern Medienbilder unsere eigenen Körper betreffen. Als Heranwachsende in den 1990er Jahren in Ost-Berlin habe ich aus Begeisterung fotografiert, um die sich rasant wandelnde Gesellschaft um mich herum zu erfassen. Im Fotolabor konnte ich mich dann in einem Moment der Entschleunigung den Bildern widmen und Distanz zu ihrem Kontext einnehmen.
Heute interessiert mich, wie sich gesellschaftliche Dynamiken im medialen Bildraum ausdrücken. Während der Konzeptionsphase für SWAYING hat mich der vertikal verlaufende Bilderstrom einer Social-Media-Plattform beschäftigt. Eine Vielzahl unterschiedlicher Bilder – private Schnappschüsse, Medien- und Werbebilder – begegnen uns dort, und wir berühren sie wortwörtlich durch die gläserne Oberfläche unserer User-Endgeräte. Auf den Social-Media-Kanälen ist der News-Feed endlos und „füttert“ das Belohnungszentrum unseres Gehirns, während wir mit unserem Finger über die gläserne Oberfläche wischen. Nach einiger Zeit verlieren wir den Überblick und das Zeitgefühl. Eine Art Schwindel setzt ein und man kann den eigenen Körper nicht mehr verorten. Wo befinden wir uns – welche Perspektive nimmt man ein als User an einem Endgerät mit gläserner Oberfläche? Wer leitet unseren Blick? Wie können wir unsere Haltung selbst bestimmen, wenn unsere Körper vom Schwindel erfasst sind?
Aus dieser Analyse und diesem Erleben heraus habe ich SWAYING in Zusammenarbeit mit der Performerin Martina Garbelli entwickelt. Anders als im virtuellen Raum der Social-Media-Plattform gaben wir dem kopfüber schwebenden Körper sicheren Halt. Die Bewegungen von Martina sind präzise auf den Bildraum ausgerichtet – und zwar auf einem 50-Zoll-Monitor. Sie selbst schwingt auf die Bildschirmoberfläche zu – berührt diese mal sanft, mal mit Wucht. Betrachtende können durch das Schwingen des Monitors selbst von einem Schwindel erfasst werden, diesmal jedoch ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren. Gravität und Gleichgewicht lassen uns unseren eigenen Körper spüren – getriggert durch den sich bewegenden Monitor, in dem Martina kopfüber kraftvoll in einem sicheren Raum schwingt.
HvA: Ja, es ist eine Skulptur. Zunächst weil das Werk dreidimensional ist. Keine Skulptur aus Stein, kein Marmor, kein Holz, keine Pappe. Es ist ein Bildschirm; flach, der einen Bildraum im Raum, gleich einem Gemälde, durch Bewegungen eröffnet und darin dem Volumen eine weitere Zeitdimension hinzufügt. Dein Werk schafft einen radikalen bis zum Schmerz der Berührung sich steigernden Antagonismus zwischen den Betrachter*innen und der Performerin Martina Garbelli – und zwar derart, dass der Antagonismus zu einem Widerstreit wird, den keiner von uns gewinnen kann. Sie trifft körperlich auf die Glasfläche, wir treffen geistig auf sie. So behutsam wir ihr auch entgegentreten, die Gewalt, der sie ausgesetzt ist, können wir nicht mindern. Ihr Blick, ihre Bewegung, ihre Anstrengung betrifft uns. „Swaying“ – „schwankend“, der Titel der Arbeit, ist ein Euphemismus, denn in der Wiederholung ist sie eben dieser Bewegung hin zur Verletzung und vergeblichen Erreichung des Anderen auf ewig ausgeliefert. Die Arbeit hätte auch „Sisyphos“ heißen können: kein Stein ist zu heben und zu tragen, aber von jedem Außen, von jeder Alterität wird der Mensch durch den Bildschirm abgetrennt. Für mich bedeutet der Eindruck dieses Werks eine furchtbare Einkapselung menschlicher Existenz, ein Stück Samuel Becketts. Ist es so, dass im Unterschied zur Fotografie Du für das Video, für den Film die Theatralik benötigst?
YC: Sehr interessante Frage, da ich mit Strategien der Reduktion und der Entschleunigung arbeite und dennoch die Betrachtenden die Beziehung zu den Performer*innen oft intensiv erlebe. Wenn ich ein Video-Performance-Setting entwickle, basiert dieses auf der Recherche zu einer spezifischen medialen Bildwelt, die mich nicht mehr loslässt und die ich verstehen will. Ich frage mich, wer wie gezeigt wird. Mich interessiert, welche Körper durch welche Bildikonografie und mit welchem Narrativ medial repräsentiert werden und welche unterschiedlichen Beziehungen wir zu medial repräsentierten Körpern eingehen.
Als ich SCREEN erstmals installiert sah, war ich sehr erstaunt, wie sehr mich die Arbeit an Becketts Fernsehspiele, die zwischen 1966 und 1986 produziert wurden, erinnert. Dies rührt sicher aus der direkten körperlichen Bezugnahme der Performerinnen zum Bildraum: die Performerin sieht man jeweils lebensgroß in dem Bildraum, den der Monitor ganz real und analog hergibt. Ein 40-Zoll-Monitor wie bei SCREEN hat die Masse 92 cm x 55 cm und ein 50-Zoll-Monitor wie bei SWAYING hat die Masse 112 cm x 63 cm.
In Becketts Fernsehspielen geht es um fragmentierte Körper und den Verlust von Identität im eng gesteckten Bildausschnitt und um Bewegungsmuster die darin möglich sind. Dieses filmische Setting lese ich als Ausdruck für gesellschaftliche Verhältnisse und für individuelle Möglichkeiten sich in einem gesellschaftlichen System zu entfalten. Heute frage ich welche Möglichkeiten es gibt, individuell sichtbar zu werden in einem globalen Kapitalismus, der auf einer Sprache und Blickregimen basiert, die durch Kolonialismus und Patriarchat gewachsen sind.
In Zusammenarbeit mit den Performerinnen für die Videoskulpturen SWAYING, LEVEL, HORIZONTAL und SCREEN hat mich jeweils ein Blickregime und die daraus resultierenden Bewegungsmuster interessiert.
Für SCREEN habe ich mit Runa Hansen zusammen gearbeitet. Damals befand sie sich in einer Entscheidungsphase und wusste noch nicht, ob sie eine Karriere als Model anstreben soll. Sie war sich unsicher, wie sie den Anforderungen an Flexibilität und Schlankheit sowie einem vorgefertigtem Repertoire an Gesten und Mimik begegnen kann. In ihrer Performance in der Enge des 40-Zoll-Monitors wird dieses sich-Verhalten zu den Anforderungen an ihrem Körper spürbar.
Für LEVEL sprach ich zusammen mit der afroamerikanischen Performerin Nasheeka Nedsreal über traditionelle Repräsentationen schwarzer weiblicher Körper – über mediale Narrative und Bilder, die aus Kolonialismus und Nationalsozialismus resultieren. Wir beschlossen, dieses Bildrepertoire zu konterkarieren und ein Bewegtbild mit neuer Perspektive und einem neuen Narrativ herzustellen.
Während ich die Videoskulpturen-Werkreihe entwickelte, interessierten mich traditionelle Blickregime auf weibliche Körper und die damit verbunden gesellschaftliche Ansprüche, auf die man im Alltag in gewisser Weise stößt wie an gläserne unsichtbare Decken oder wie an gläserne Projektionswände, auf denen sich gesellschaftliche Blicke und Perspektiven reproduzieren. Blicke und Perspektiven, die eine bestimmte Beschaffenheit, Gestalt oder Charakter wie eine vorgefertigte Form auf einen Körper projizieren.
Wenn du nach der Theatralik fragst, denke ich vor allem an die räumlichen Anordnung der Video-Skulpturen, die den Körper der Betrachtenden in das Bild einbezieht und auch dazu kommende Betrachtende in eine Situation versetzt, in der sie sich entscheiden müssen, wie sie sich im Raum positionieren. Im Falle von HORIZONTAL liegen die Betrachter*innen auf einem flachen Podest am Boden, das die Größe des Monitors aufnimmt. Auf dem Rücken liegend schauen sie auf einen Monitor, der horizontal im Raum hängt, etwa einen Meter über dem Boden, direkt über ihren Oberkörpern. Auf der anderen Seite scheint die Performerin Maria Wollny auf der Oberfläche des Bildschirms zu liegen.
In der Zusammenarbeit mit Maria, beschäftige mich die Sichtbarkeit und Darstellung alternder weiblicher Körper, die in der visuellen Ökonomie der Gegenwart marginalisiert sind. Die Video-Skulptur schafft nicht nur Sichtbarkeit, sondern ermöglicht es auch, eine Erfahrung von Nähe, Schönheit und Geborgenheit zu evozieren – in Bezug zum alternden weiblichen Körper.
Ausgangspunkt meiner performativen Video-Skulpturen sind also gesellschaftliche Prozesse sowie medienspezifische Fragestellungen. Mich interessiert welche Körperbilder zirkulieren und uns prägen, da Menschen über ihre Körper zur Gesellschaft ins Verhältnis gesetzt werden. In der visuellen Repräsentation sieht man welche Rolle Körper in einer Gesellschaft einnehmen sollen. Ich möchte einen performativen Verhandlungs- und Reflexionsraum herstellen, in dem man Körpern jenseits von Blickregimen und traditionellen Bewegungsmustern begegnen kann.
*in Berlin, lebt in Leipzig und Berlin
Yvon Chabrowski, geboren in Ost-Berlin, studierte an der HGB Leipzig bei Timm Rautert und Florian Ebner, am Ensba Lyon und in der Meisterklasse von Peter Piller. Ihre Werke wurden in zahlreichen internationalen Ausstellungen u. a. im Kunstmuseum Liechtenstein und in der Weserburg Bremen gezeigt. Aktuell zeigte die Kunsthalle Rostock ihre Einzelausstellung BODIES AND VALUES und ihr erster umfangreicher Katalog VIDEO AS SCULPTURE erschien bei Spector Books.
Mehr über Yvon ChabrowskiHubertus von Amelunxen
*1958 in Hindelang, lebt in Lübeck und Berlin
Kultur- und Kunstwissenschaftler
Beirat JUNGE AKADEMIE
Seit 2003 Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Bildende Kunst